Es ist ein brühend heißer Samstag und die Menschen über mir haben nichts Besseres zu tun als umzuziehen. („Geht doch lieber baden, ihr Lumpis!“) Mein Nervengerüst war nach schier unendlichen Stunden des Lärms bereits gestern derart angespannt, ein auf den Boden fallendes Staubkörnchen wäre schon zu viel zu ertragen.
Und nun geht es weiter damit. Permanent lassen sie, seit bereits zwei vollen Tagen und Nächten, Sachen fallen, die sie vermutlich auseinander bauen und rücken Möbel umher.
Zum besseren Verständnis muss man diesen Ausführungen hinzufügen: eine Trittschalldämmung befand man wohl für überflüssig beim Bauen dieses dämlichen Papphauses, in dem ich leider ein Heim fand. Und ich fragte extra noch: “Ist es ein ruhiges Haus? Ich brauche nämlich viel Ruhe!”
“Sehr ruhig”, war die verlogene Antwort von Vermieter und den vorherigen Bewohnern.
Lucy, der kleine Angsthase, erschrickt und erstarrt bei jedem unüblichen Geräusch, fängt unvermittelt an zu zittern. Hört das Geräusch nicht auf oder wiederholt sich, beginnt sie zu hecheln, bis sich ihre Atmung überschlägt. Diese Geräusche hier zählen definitiv dazu. Ihr angespanntes Verhalten stresst mich noch zusätzlich. Nicht eine Sekunde liegt sie ruhig da, stattdessen starrt sie die ganze Zeit an die Decke und fährt ihr übliches Angstprogramm. Es ist kaum auszuhalten, bin ja selbst angespannt und der Verzweiflung nah. Nichts hilft ihr da raus zu kommen, nichts hilft mir. Am Ende müssen wir da wohl durch.
Man weiss ja: In Mietshäusern sind alle Bewohner zur Rücksicht auf ihre Mitmieter verpflichtet. Dazu gehört natürlich auch die Minimierung von Lärm. Dieser ist aber nicht immer zu vermeiden, das ist mir wohl bewusst. Es kann ja niemand von seinen Nachbarn erwarten, dass diese durch die Wohnung schweben.
Nur machte ich das junge, frisch eingezogene Pärchen damals (erst 3-4 Monate her) darauf aufmerksam, dass das Haus äußerst hellhörig ist, dabei besonders bei Fußbodenerschütterungen, denn bereits die ersten wenigen Tage waren die Hölle mit den Beiden.
Wie unangenehm mir das war. – Sowas hatte ich noch nie getan, bin eher eine “easy cheesy”-Nachbarin, war in Berlin irgendwann mit jedem Nachbarn befreundet. Die Beiden bedankten sich überschwänglich für das Suchen des Gespräches und versprachen Rücksichtnahme, aber handelten Null danach. So wurden sie mir mit jedem Knall und Rumps, von Tag zu Tag, immer unsympathischer.
Bereits vor den neuen Nachbarn war es kaum zu ertragen ständig krankheitsbedingt in dieser lauten Wohnung gefangen zu sein. Nun kamen diese ignoranten, unfassbar lauten Menschen als zusätzliche psychische Belastung oben drauf. Hätte ich nur die finanziellen Mittel gehabt, wäre ich sofort umgezogen, dachte ja schon vorher drüber nach.
Also sollte ich vielleicht glücklich darüber sein, dass sie ausziehen?! Doch scheint nur sie, als ein Part der Lärmmacher, auszuziehen und so weiß ich wirklich nicht, wie es mit dem Geräuschpegel weiter gehen wird.
Im Moment sitzen sie übrigens mit lauter Musik auf der Treppe und pausieren. Ich möchte sie am liebsten alle backpfeifen und ich habe äußerst selten solche Gewaltphantasien. Sowas entspricht nicht meiner Persönlichkeit.
Nach einer fast durchgepolterten Nacht und der Weiterführung dessen früh um acht, bat ich heute Morgen erneut um etwas Rücksichtnahme (also das zweite Mal in vier Monaten), erfuhr dabei dass sie umziehen. Doch sie versprachen etwas auf unnötigen Lärm zu achten. – DAS kam also dabei raus!
Ich fühle mich ja schon fast spießig bei meinen Ausführungen (Sind sie auch!) und wage auch kaum zu erzählen, dass ich gestern doch tatsächlich mit einem Besenstiel gegen die Decke klopfte. Ich alterte in diesem Moment um ca. 50Jahre. 😀
Aber ich wusste mir einfach nicht mehr anders zu helfen. Es war doch schon so spät. Sie gönnten mir und der zarten Kleinen keine zwei Minuten Ruhe, meine Nerven waren derart am Ende. Ich war der Verzweiflung nah.
Man muss auch wissen, meine Wohnung ist mein Ruhepol, mein Rückzugsort von dem Stress der Welt. Das ist auch der Grund, warum ich immer enorm viel Mühe und Arbeit in Einrichtung und Gemütlichkeit stecke.
Zu den schlimmsten Zeiten meiner Agoraphobie, in Berlin noch, konnte ich manchmal über Wochen die Wohnung nicht verlassen, ernährte mich jämmerlich von Resten. Mein Freundeskreis wurde immer kleiner, Beziehungen zerbrachen an der Last, an arbeiten war irgendwann nicht mehr zu denken.
Ja, es ist belastend. Menschen mit einer solchen Agoraphobie haben üblicherweise Probleme sich auf öffentlichen Plätzen aufzuhalten, Supermärkte oder andere Geschäfte zu betreten, sich in Menschenmengen, Kinos oder engen geschlossenen Räumen, wie Fahrstühlen, aufzuhalten oder sich (alleine) mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu bewegen.
In manchen Fällen erreicht die Agoraphobie eben ein Ausmaß, dass die Personen nicht mehr in der Lage sind das Haus zu verlassen, wie bei mir damals.
Und auch all die anderen aufgezählten Dinge bereiten mir immernoch enorme Schwierigkeiten. Zum Teil sind sie trotz meiner Fortschritte nicht einmal denkbar. Dazu zählen: Auto fahren, Konzertbesuche, Festivals, Schwimmbäder/Seen und mehr. Wie viele Erkrankte weiss ich diese Belastungen in der Öffentlichkeit weitestgehend zu verbergen und mit mir auszumachen. Manchmal klappt das aber auch nicht und ich breche in den ungünstigsten Momenten hilflos in Tränen aus.
Mittlerweile habe ich entschlossen und konsequent an mir gearbeitet und auch die kleine Lucy half beim regelmäßigen Verlassen der vermeintlich so schutzbringenden vier Wände. Ich würde niemals mein Schutzbedürfnis über ihre Bedürfnisse raus zu müssen, stellen. Daher klappt es im Moment auch ganz gut mit dem Verlassen der Wohnung. Doch kostet es mich immer äußerst viel Kraft den für die Meisten ganz normalen Alltag zu stemmen.
In Situationen, aus denen ich nicht ausbrechen kann, bekomme ich immer noch Panikattacken oder verspanne mich zunächst erst einmal stark. Die Angst legt sich dann wie ein schwerer, dunkler Umhang über meinen Körper. Es ist anstrengend in wieder abzuschütteln, klar zu sehen, den Fluchtreflex unter Kontrolle zu bekommen, kurzum: die Situation zu kontrollieren.
Bin ich endlich wieder Zuhause, lass ich alles von mir abfallen.
Doch nun kommt zu diesem Berg noch dazu, dass ich das Gefühl habe, meine Schilddrüsenmedikamente wirken nicht (ausreichend). Sowohl körperlich als auch mental bin ich permanent ausgelaugt und schlapp. Ständig werde ich müde, besonders nach 16 Uhr. Dann ist es kaum mehr auszuhalten. – Immer wieder schlafe ich ein, kann mich auf nichts konzentrieren.
Ich bin dabei meine Medikation überprüfen zu lassen, doch das kann noch dauern – Spezialisten sind ja irgendwie permanent ausgebucht. Bis zu einer dauerhaften Verbesserung meines Zustandes muss ich demnach noch weiter an mir arbeiten und auf meine Medikamente besser eingestellt werden.
Also versteht Ihr jetzt, warum ich meine Wohnung, meine Ruhe, Rückzug und Einsamkeit so nötig brauche. Ich kann nur das Beste hoffen, was die künftigen Mieter über mir angeht oder schnell gesünder werden, damit ich bald arbeiten und mit dem verdienten Geld wegziehen kann. ODER die Revolution kommt bald und wir brauchen kein Geld mehr. 😀
Bisher, den heutigen Tag betreffend, rettete ich mich eine Weile nach draußen auf einen Trödelmarkt (= das übliche Samstagströdeln) und quatschte dort mit meinem 85-jährigen Bekannten Konrad (*Name verändert) noch eine kleine Ewigkeit. Ich wollte einfach nicht nach Hause, doch er ist auch ein verdammt spannender Mensch: Sein Vater war im KZ, der kleine Konrad schlug sich mit viel Gewitztheit auf Leipzigs Straßen durch und tat sein Bestes seine kranke Mutter durchzubringen.
Ich kenne ihn durch meine Sammelleidenschaft und bin froh ihm begegnet zu sein. Vielleicht berichte ich Euch ja mal etwas mehr von ihm, wenn Ihr das wünscht.
Die Ruhe meine Trödelmarkt-Beute anzuschauen habe ich nicht, denn der Umzug wütet immernoch durch das Haus wie eine wild gewordene Nashornhorde. Also raffe ich mich ein weiteres Mal auf für heute und hole mein Pflegehund ab. Eigentlich möchte ich nur noch schlafen.
Doch wir gehen in den kleinen Garten, den ich neuerdings bewirtschafte. Eigentlich ist es nur ein kleiner Hinterhof, aber er ist grün und gibt mir die Ruhe, die ich dringender als alles andere brauche im Moment. Und ich habe sogar ein kleinwenig Platz etwas anzupflanzen.
Nun lege ich mich zurück in das Gras und lass mir den Wind etwas um die Nase wehen, während die Hundekinder wie wahnsinnig um mich rum toben. – Das Leben, das ich wählte.
Hinterlasse einen Kommentar
9 Kommentare auf "Das “Draußen” macht mir Angst"