Smartphone, Emails und 24-Stunden-Erreichbarkeit – Oftmals erkennt man in Zeiten der totalen Hektik nicht einmal mehr die Warnsignale des eigenen Körpers, um dann möglichst rechtzeitig einen Gang runter zu schalten. Es rächt sich. Irgendwann reißt es einen einfach zu Boden. Nicht ohne Grund scheinen Burnouts und Depressionen im Moment allgegenwärtig. Also lernt man draus und passt zukünftig besser auf sich auf.
Doch dann gibt es eben solche Tage. – Tage, an denen einen völlig unerwartete Krisen förmlich aus den Schuhen hauen. Gestern hatten wir – mein adoptiertes Hundekind Lucy und ich, einen eben solchen und so nahmen wir uns für heute als Ausgleich viel Ruhe vor.
Doch der Kopf braucht eine gewisse Zeit, um von diesem Stress auf Entspannen umzuschalten. Wir kamen nicht zur Ruhe und machten uns auf den Weg etwas um die Häuser zu schlendern. Allerdings wurde genau am heutigen Tag die (erst) dritte TOLERADE ihrer Art veranstaltet – eine Parade für Respekt, Miteinander und Toleranz. Hier ein Statement von ihnen selbst:
„Mit dieser alljährlichen Tanzparade durch die Stadt wird für ein besseres Zusammenleben der Menschen demonstriert. Mit musikalischen Beiträgen von über einem Dutzend Paradewagen wollen verschiedene Akteure aus der Dresdner Clubszene, Initiativen und Vereinen sowie Musikschaffende die Straßen und Plätze zu einer Tanzfläche verwandeln. Das Ziel ist, eine Atmosphäre im Dresdner Stadtalltag und Clubleben zu schaffen, in der sich alle unabhängig von Hautfarbe, geschlechtlicher Identität, sexueller Orientierung, religiöser Überzeugung, Geldbeutel oder Lebenskonzept ausleben und wohlfühlen können.“
Aber nicht nur das Engagement für (Welt-)Offenheit und ein respektvolles Miteinander in Form der Feier können sie vorweisen, sondern zudem wird der Erlös der Veranstaltung noch gemeinnützig gespendet: Bei den letzen Paraden kamen immerhin mehrere zehntausende Euro zusammen (= Einnahmen aus der Aftershow-Party und die Künstlergagen für die Musiker), die an lokale Geflüchteten- und Integrationsinitiativen übergeben wurden. Löblich!
Klingt mir nach einer durchaus unterstützenswerten Veranstaltung! Also beschloss ich, sie mir mal angucken zu gehen, allerdings von weitem, denn Lucy und ich können beide schlecht mit vielen, drängenden Menschenmassen und lautem Techno, zudem war ja noch unser hohes „Ruhe-Diktat“ für den heutigen Tag.
– „Bloß nicht wieder aus den Augen verlieren, Melinda!“ (Ein Selbstgespräch)
Auf dem Weg nun liefen wir an einer Menge bunter Menschen vorbei, die mit Luftballons ausgestattet vor einem Haus standen. Und „bunt“ waren sie wirklich, das kann ich euch sagen, innen und außen!
Man erblickte hier einzelne fröhlich umherlaufende Kinder oder gleich ganze Familienverbände, Greise, Musiker jeder Couleur, Altlinke, Goths, Wohnungslose und Wohnungsbesetzer, Jugendliche, Rollstuhlfahrer, Hippies, Metalheads, ehemalige und aktuelle Punks sowie andere Zecken, Antifas, Skinheads, Besoffene und nüchtern Wirkende, bekannte Gesichter und Unbekannte. Kurzum: Ein wild zusammengewürfelter Haufen friedlicher Menschen. Einen flüchtigen Moment lang begutachteten wir sie everwundert und waren zugleich äußerst neugierig. Sie schienen eine Mission zu haben, aber welche, war nicht ersichtlich.
Wir trafen nun an der Ecke einen Genossen, der so freundlich war, uns endlich aufzuklären. Diese drei Minuten Unwissenheit waren ja kaum auszuhalten! Jetzt waren wir immerhin darum schlauer, dass es sich wohl um einen Trauerzug zur Elbe handelte und zwar für einen bekannten Neustädtler. So wirkte es auf den ersten Blick keinesfalls, schon alleine wegen den Luftballons und der guten Stimmung vieler. Aber man kann sich halt immer irren.
Da hörten wir in der Ferne schon die Bässe tönen und näherten uns zögerlich der Parade. Denn genau in der Parallelstraße zu der andächtigen Trauerveranstaltung zog die TOLERADE gerade mit über 4000 Menschen laut feiernd entlang. Mit Bässen und Beats auf insgesamt 11 Paradewagen verwandelten sie in der Tat die Straßen und Plätze Dresdens zu einer einzigen Tanzfläche, ihr Vorhaben erfüllend. Und wie sie da so vorbei tanzten und ich Lucy gewissenhaft die Ohren zu hielt, hoffte ich inständig, dass sich hier nicht nur die Hüften, sondern auch nachhaltig in den Köpfen der Menschen etwas bewegen lassen würde. Man wünsche es dieser Welt.
Ein paar Minuten vergingen auf diese Weise und ich kam nicht umher mich zu fragen, wo der Trauerzug nun sei und ob es nicht wohl die dankbarere Veranstaltung heut für mich wäre. Nach einer kurzen Besprechung mit meinen Begleitern, machten wir uns doch tatsächlich auf den Weg dorthin. Ich freute mich, war er doch ein bekannter Neustädter und durchaus einer angemessenen Würdigung wert.
Ihr fragt euch nun zu Recht, wer dieser Mensch denn war? Ernst “Erni” Völker – ein Dresdner Urgestein, verstarb kürzlich tragischer weise an einer schlimmen Krebserkrankung. Und was für eine unfassbar schöne Zeremonie er nun bekam! Die Trauerfeier in der Galerie Jürgen Dreißig verpassten wir zwar, aber an der Seebestattung konnten wir nun teilnehmen. Und so standen wir nun hier zwischen all diesen tollen, faszinierenden Menschen. Die rührenden Ansprachen konnte ich nur erahnen, denn ich stand (aus gebührendem Respekt) zu weit entfernt.
Doch da wehte mir plötzlich der Wind durch die Haare. Ich schloss die Augen für eine kurze Weile. Atmete tief ein. Lucy tobte mir unterdessen um die Beine, Sand unter und zwischen ihren kleinen Hundezehen.
Die Stimmung war schwer zu fassen, irgendwas zwischen traurig und heiter. Kam man in Gefahr von der Traurigkeit wegzogen zu werden, passierte etwas Lustiges oder Rührendes und man wurde sogleich heraus gerissen. Vielleicht war es eben seine Aura, die diesen Ort hier erfüllte, vielleicht trugen die Menschen, die ihm nahe standen, sie schlichtweg weiter, hier und jetzt.
“I’ve come to know the friends around you
Are all you’ll always haveI’ve come to know that memories
Were the best things you ever had”– Ben Howard
Unzählige Kinder (denen er das Trommeln beigebracht hatte) liefen unbekümmert umher. Wellen von Traurigkeit schwappten über die Gesichter, ebenso wie fröhliche Erinnerungen, die geteilt wurden und die Angehörigen, Kollegen und Freunde lächeln ließen. Dankbarkeit in ihren Augen. Und dann noch das schöne kleine Holzboot, das mit Blumen und anderen Gaben für seine Reise bestückt wurde, wohl auch mit Gras und Hochprozentigem. – Was man halt so mitgibt. 😉 Also nicht ich, ich lebe immernoch glücklich und zufrieden Straight Edge aka Drogenfrei!
Bevor Ernie sich nun auf seine unendliche Reise begab, wurde er in die Elbe entlassen, begleitet von einer melancholischen Trompete, Luftballons, die langsam in den Himmel stiegen und Blütenblättern im Wasser. Die Strömung trug ihn hinweg, verabschiedet von so vielen lieben Menschen. Das ist mehr als nur Freiheit. Mir kamen die Tränen, nicht vor Traurigkeit, sondern Rührung. Ich war noch nie auf einer solch schönen Trauerfeier und dankbar hier sein zu dürfen.
Ich, wie viele Neustädter, hatte ihn schon irgendwo hier und dort mal trommeln gesehen, beziehungsweise gehört. Wie oft lief ich an seiner Wohnung in der Kamenzer Straße vorbei und fragte mich, wie die Nachbarn wohl mit einem Schlagzeug im Haus leben konnten. Der Gedanke ließ mich schmunzeln. „Wie spießig!“, dachte ich kurz und ging über mich selber lachend weiter meines Weges.
Die Wahrheit ist: Ich liebte es!! Manchmal blieb ich stehen und lauschte etwas, wenige Meter weiter spielte Jemand Klavier und dort wer Trompete. Eine lebendige Stadt. Was für ein Leben hier! Und nun ist es etwas ruhiger geworden in der Neustadt.
„Im Augenblick des Abschieds ist der Schmerz der Trennung am größten.“
– Manfred Poisel
Er wird fehlen, mir und vielen Anderen, den Menschen hier mit Sicherheit. So bleiben sie alle noch lange stehen und gucken ihm nach; gucken auf die Wellen, die ihn jetzt in ihrer Gewalt haben; gucken auf das kleine Boot, das ihn auf diesem Weg begleitet.
Ich verkniff mir die Tränen, kannte ihn ja kaum! Kam mir albern vor. Da begannen auch schon die Mundharmonika-Klänge, die die schwere Luft erfüllten und mich wieder einmal raus holten aus der abstürzenden Stimmung. Ein Mann mit äußerst wirren, langen, weiß-grauen Haaren, einem Freizeitanzug und einem Gesicht, das mit jeder tief eingezeichneten Linie von Lebenserfahrung erzählte, spielte sie. Er wirkte, als spielte er nur für sich oder höchstens Ernie noch. Doch alle lauschten still. Manche erzählten sich leise Geschichten. Man kam sich willkommen vor zwischen Fremden.
Wir blieben noch einen Moment und verließen diesen Ort dann ruhigen Schrittes. Im Augenwinkel sah ich noch wie Jemand anfängt ein Banjo zu spielen. Zarte Klänge untermalten unseren Abschied. Und ich muss daran denken, dass er so viel Musik wie er im Leben hatte, wohl auch im Tode bekommen hat.
Es ist ein lauwarmer Sommertag, Löwenzahn-Schirmflieger im Wind. Sie verfangen sich in den Haaren aller Menschen hier. Ich sehe sie fliegen und mir ist ganz warm im Herzen.
Wir gehen nun was essen. Lassen den Abend ruhig ausklingen. Sitzen dazu in aller Gemütlichkeit an der Scheune in der langsam untergehenden Sonne. Da hören wir Trommeln in der Ferne. Kurz überlegen wir, doch da wird es uns bewusst. – Es ist die Trauergemeinschaft, die am Ende des ruhigen Gedenkens trommelnd durch das Viertel zieht, genauso wie auch Ernie immer den Stadtteil unterhielt.
Seine Schwester trägt eines seiner Lieblingshemden und man sieht, wie sie ihre umgehangene Trommel aus ganzem Herzen spielt. Erst hielten sie wohl vor seiner Wohnung für ein letzten Trommelhall durch diese geschichtsträchtigen Häuserwände und gehen nun durch sein ehemaliges Viertel. Spontan schließen wir uns nochmals dieser Gemeinschaft an und wie die Sonne untergeht, trommeln wir durch die Gassen und Straßen. So endet dieser Abend laut aber doch gemächlich.
Es sind wunderbare Menschen, die ich erleben durfte und das schönste Gedenken, dass man sich vorstellen kann. So bin ich unfassbar dankbar, dass ich durch solch einen glücklichen Zufall die Chance hatte das mitzuerleben und teilzunehmen, besonders nach den schlimmen Sorgen um Lucy die letzten Tage. Im Leben wie im Tod brauchte er die Menschen einfach zusammen. Am Alaunpark bleibe ich nun zurück und sehe die trommelnden Menschen in den Sonnenuntergang laufen. Schaue ihnen noch kurz nach.
Wir machen uns auf den Weg nach Hause, mit all den schönen Eindrücken im Herzen. Ich bin kaputt aber freudetrunken. Meine heutige Lektion war wohl, dass auch ein vermeintlich trauriges Ende einem Kraft und Hoffnung geben kann. Jetzt aber auch genug davon. Gedenken ja, aber selber bitte möglichst erfüllt weiterleben…
„Jede Sekunde die man im Leben an den Tod denkt ist eine verschwendete.“
– Schulmann, Torge
R.I.P. ERNIE,
von mir und dem gesamten Stadtteil.
Ich habe keine eigenen Fotos geschossen an diesem Tag des Gedenkens. Daher sind sie auch nicht mein Eigentum. Vielen lieben Dank an die Mittrauernden, dass ich sie verwenden darf.
QUELLE: https://www.facebook.com/groups/877977929011262/
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2 Kommentare auf "Trommeln in der Schweigeminute – RIP ERNIE"