Dresden Neustadt. 11:40. Ich sitze in einem gemütlichen kleinen Café und fühle mich doch gehetzt.
Eine E-Mail nach der anderen läuft im Postfach auf. Fans und Follower wollen halt auch Kontakt, haben Fragen oder senden lieben Zuspruch. Gerade seit dem dieser Blog ins Leben gerufen wurde, häufen sich persönliche Nachrichten sowie auch herzzerreißende Hilfsgesuche. Die Deadline für den aktuellen Auftrag rückt immer näher, unzählige Sponsoren und Fotografen warten auf eine Antwort ihrer Kollaborationsanfragen, die Buchgestaltung muss fertig besprochen werden und ständig ändern die Shopbesteller ihre Wünsche. Der nächste Beitrag für den Blog ist auch überfällig. Oben drauf kommen noch die vielen Termine und Erledigungen wegen des Umzuges, regelmäßige Arzttermine, berufliche Treffen und Privates. Die Folge: Überforderung und chronischer Stress. Und das ist nicht zu unterschätzen, denn: „Stress ist einer der wichtigsten psychosozialen Auslöser von Depressionen“, sagt auch Diplom-Psychologe Frank Meiners.
Es sind noch ganze 2 Stunden bis zu meinem heutigen Termin hier in Dresden und ich frage mich, ob es angemessen ist, derart lange in diesem Café zu verweilen. Ob man wohl nach einer Stunde woanders hin gehen sollte oder ob ein längerer Aufenthalt in Ordnung geht, wenn man einfach alle 20 Minuten etwas bestellt?
Allerdings ist mein Geld knapp bemessen nach den vielen Fahrten zu meinen Terminen der letzten Tage, immer pendelnd zwischen den Städten (bei Modeljobs muss man oftmals die Fahrtkosten vorstrecken). Und die Preise hier im Café sind nicht gerade niedrig. Demnach ist das Dauerbestellen auch keine wirkliche Option.
Während ich also hin und her grübele, mir selbst unnötig Stress mache – wie so oft -, verzweifle ich zudem noch daran mich ins hauseigene Internet einzuwählen. Ich bin gestresst, gebe es daher schnell auf und schlage stattdessen das Slow Magazin auf, das ich mir bei der Ankunft in Dresden geleistet habe. Und schon schreit es mir wieder entgegen dieses momentan allgegenwärtige Thema : Entschleunigung aka die Slow-Life-Bewegung.
Da sich unser Lebenstempo in den letzten Jahrzehnten stetig gesteigert hat – immer mehr Arbeit, mehr Hobbies, mehr Verpflichtungen – gibt es als Resultat nun diese Menschen, die die Notbremse ziehen und quasi gleich angezogen lassen auf ihrem weiteren Weg. Ich nehme mir einen kurzen Moment über ihre Methoden und Beweggründe nachzudenken und befinde diese Lebensweise schlussendlich als erstrebenswert, denn ich bin kein großer Fan der aktuellen Tendenzen hin zu einem immer gehetzteren Alltag, denn „Wir sehnen uns nach Erholungspausen (…), aber der Drang, uns schnell wieder in eine neue Tätigkeit zu stürzen, ist stärker als wir“, analysierte der Soziologe Jean-Claude Kaufmann.
Sinnlose Hektik wird durch die gesellschaftlichen und vor allem wirtschaftlichen Entwicklung in alle Lebensbereiche hineintragen und ignoriert dabei jedes natürliche und insbesondere auch menschliche Maß. Nun geht es den Vertretern der Entschleunigungs-Bewegung nicht um Langsamkeit zum Selbstzweck, sondern um angemessene Geschwindigkeiten und Veränderungen in einem umfassenden Verständnis: im Umgang mit sich selbst, mit den Mitmenschen und mit der gesamten umgebenden Natur.
Mit diesen Erkenntnissen versuche ich selbst kurz inne zu halten und genau jetzt mit meiner persönlichen Umerziehung anzufangen. Ich schließe die Augen, betrachte mich einmal von innen und versuche die vorbeiziehenden Gedanken auch wirklich gehen zu lassen. Tief durchatmen.
Grundsätzlich bin ich ja ganz gerne mal so alleine mit mir. Aber entgegen dem was mir tatsächlich gut tun würde, denke ich jedes Mal darüber nach, mit wem ich mich jetzt noch schnell verabreden könne, wo ich doch gerade mal in deren Kiez bin. Erfahren sie im Nachinein, dass ich da war, gibt es Ärger. Also kontaktiere ich in dieser Szenerie einige Freunde, die dann verschiedenste Gründe vorbringen, jetzt nicht kommen zu können. Doch sie wollen ein Tag später sehr gerne ein Treffen, morgen oder noch eine Weile später. Ich fange an aufzuschreiben, wer wann kann, denn Konzentrationsprobleme plagen mich derzeit. Dann schnell die Nächste/den Nächsten anschreiben und die Geschichte wiederholt sich bis ich jemanden finde oder aus Zeitgründen aufgeben muss. Als Folge bin ich gestresst vom vielen hin und her Schreiben und Telefonieren und natürlich auch ein wenig enttäuscht, dass sich kaum einer spontan Zeit nimmt.
Hätt ich es eben so gemacht wie gerade beschrieben, würde ich mich jetzt an diesem Punkt sehr verloren fühlen, denn ich hätte mich mich darauf verlassen, dass Irgendwer schon zu einem Treffen kommen würde. Was ich nun mit mir anfangen soll, weiß ich nicht so recht. Eine innere Unruhe macht sich breit. Ich fühle mich einsam. Vielleicht sollte ich ja zu einem meiner Freunde auf Arbeit gehen für einen kurzen Besuch? Oder neben einer meiner Freundinnen sitzen, während sie ihrem Baby die Windel wechselt und in Babysprache redet bis mir die Ohren bluten? Oder? Oder?
Nein, heute nicht! Heut bleibe ich alleine in der Tiki Bar bei Rock´n´Roll Musik und einem Sojaeisbecher mit Erdbeeren und Mangostücken und höre einfach mal in mich hinein. Vielleicht träume ich auch einfach nur ohne konkretes Ziel. Auch das soll erlaubt sein!
Manchmal vermisse ich ja die „guten alten Zeiten“, wo die Freunde nur einen Eingang weiter wohnten und man sich zu abgemachten Verabredungen traf. Es gab an feste Zeiten verbundene Rituale. Das gab eine gewisse Stabilität im Leben. Klingelte ein Freund doch einmal spontan, musste man sich schnell entscheiden, ob man Raus gehen mag. Meistens willigte man eh ein und machte sich auf zu völlig ungeplanten, spannenden Abenteuern.
Diese Strukturen verbunden mit einer gewissen Unbekümmertheit wichen den flexiblen Zeitplänen der schnelllebigen Neuzeit. Jeder kann nun auf dem Sofa liegend, ganz in Ruhe entscheiden, ob er/sie sich hoch bewegen mag. Wenn die Faulheit siegt, sagt man halt schnell Pläne ab – in einer Sekunde beim Empfänger, per Whatsapp und Co.
Im Tausch für ehemals verbindliche Aktivitäten gibt es jetzt die Erwartungshaltung immer erreichbar sein zu müssen, besser noch: immer verfügbar. Faulheit und Entspannen ist verpönt. Chillen tun doch meistens eh nur Kiffer. Höchstens Sonntag soll Nichtstun erlaubt sein. Aber eigentlich kann man da ja auch endlich mal richtig putzen, ein paar aufgeschobene private Treffen abhalten oder einen Ausflug machen. Freizeit ist rar – nutze sie besser gut!
Oder…
…du sagst einfach mal: NEIN! Oder wie Bartleby es höflich formulierte: „I would prefer not to!“ Schließe dich der Slow-Living-Bewegung an und lass dich nicht mehr ständig stressen. Denn wenn man das eigene Leben aus der Tempozone heraus zu lotsen gedenkt, muss man bei sich anfangen, versuchen ruhig in sich hinein zu hören und sein persönliches Zeitempfinden zu entdecken, rät der flow Artikel. Im Laufe des Tages einfach mal innehalten und darauf achten, ob man sich gerade gehetzt, müde, ruhig oder angespannt fühlt, empfiehlt er weiter. Auf diese Art erkennt man auch die eigenen Bedürfnisse und Belastungsgrenzen eher, denn im stressigen Alltag überhört man diese oftmals unbewusst.
Für mich bedeutete diese Selbsterfahrung heute einmal Dresden komplett alleine zu erleben. Langsamer leben: Es geht!
Aber da alle Caféidylle einmal ein Ende hat, muss ich nun doch zu meinem Termin. Die Zeit verfliegt immer, wenn es einem gut geht. Auf ein baldiges Wiedersehen liebe Tiki Bar. Rein in den Platzregen. Pitschnass komme ich an meinem Zielort an.
Mein Wohnungsbesichtigungstermin läuft gut. Eine zuckersüße alte Dame wohnt noch in der Wohnung und lässt uns hinein. Überall stehen wunderschöne große und kleine Zimmerpflanzen, sogar ein kleiner Baum auf dem geräumigen Balkon. Mir gefällt was ich sehe. Der Makler rechnet mir allerdings keine hohen Chancen aus, aufgrund von finanzkräftigen Mitbewerbern. (Scheiß Yuppies! *räusper*) Er allerdings findet mich sehr sympathisch und wird mich empfehlen, so sagt er. Die endgültige Entscheidung verbleibt aber bei dem Wohnungsbesitzer, einer Bank. Er geleitet mich galant, eingehakt in seinem Arm, unter seinem riesengroßen schwarzen Schirm über den Innenhof des Hauses und ich verabschiede mich an der Straßenecke.
Bevor ich meine zukünftige Wahlheimat wieder verlassen muss, gehe ich dann doch noch in Anti-Slow-Manier in einen Fast-Food-Imbiss namens Curry und Co und genehmige mir eine geräucherte Currywurst in Erdnusssoße und Pommes dazu. Lecker! Hier läuft Beasty Boys als ich die Räumlichkeiten betrete und danach durchweg Oldschool Hip-Hop. Angenehm. Neben mir sitzt eine Weile lang ein überaus attraktiver Mann. Allgemein wohnen in Dresden Neustadt sehr viele interessante Menschen mit toller Ausstrahlung, muss ich feststellen. Da jedoch weder die gehetzten Besucher, noch die Einrichtung zum Verweilen anregen, esse ich gemütlich auf und mache mich auf den Weg.
Ich werde weiterhin dran bleiben an der Entschleunigungs-Thematik und zukünftig mehr auf mein Bauchgefühl hören. Werde mir auch Zeiten für mich alleine gönnen, egal in welcher Stadt ich bin, egal wer dort alles wohnt an Freunden und Bekannten. Und wenn mir nach Fast-Food ist oder nach etwas Trouble, dann soll es so sein! Aber doch bitte nicht als 24/7-Lebensstil…
Ein Hoch auf alle Faultiere ! Live slow – die whenever.
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6 Kommentare auf "Sehnsucht nach Langsamkeit – Tiki Bar"